„Armenien, das sind zuallererst die Menschen und danach die Berge und die Natur.“

– Lusine, Frau aus Armenien –

Und wenn man über die Schönheit der armenischen Bergwelt weiß, dann trifft dieser Satz es wohl auf den Punkt.

Viel Spaß beim Lesen!

Es ist wieder so ein verrückter Tag, der voll gespickt ist mit unzähligen Erlebnissen, an die man am Abend im Schlafsack zurückdenkt und sich fragt, ob der Morgen nicht schon einige Tage zurückliegt. Einer dieser Tage, die eine solche Reise so unvergesslich machen.

Gegen fünf Uhr am Morgen werden wir durch das Gerumpel eines Ladas geweckt. Ein Fischer lässt knappe zehn Meter neben uns sein Boot ins Wasser. Eine halbe Stunde später rattert er auf den See hinaus. Wir schälen uns aus dem Schlafsack und nutzen die kleine Regenpause für ein schnelles Frühstück und um unser Zelt zusammenzupacken. Am Himmel sieht man schon die dunklen Wolken über die Bergspitzen klettern. Ein weiterer Lada kommt und ein Mann steigt aus, der uns die ganze Zeit freudig und staunend beim Zelt zusammenpacken zuschaut und tatkräftig mit anpacken möchte.

Mit dem Einsetzen des Regens sitzen wir auf den Rädern und erreichen auch schon bald wieder die Hauptstraße. Der Regen wird immer heftiger und ein Gewitter setzt ein. Mit einem Mal sind wir von einer weißen bis hellblauen Lichtwolke umgeben, ein heftiges Grollen folgt direkt darauf. An unseren Händen spüren wir eine leichtes bis schmerzendes Kribbeln. Der Blitz hat wohl ziemlich nah neben uns eingeschlagen! Erschrocken und aufgebracht radeln wir schnell bis zu einer kleinen Kapelle, in der wir Unterschlupf finden. Es dauert nicht einmal fünf Minuten und schon ist der Bauer von nebenan bei uns, fragt ob alles okay ist und ob wir nicht einen Kaffee trinken möchten. Doch wir lehnen dieses Angebot dankend ab und wollen die kleine Gewitterpause lieber nutzen um etwas vorwärts zu kommen.

In einem kleinen Ort vor Martuni wollen wir eigentlich die große Straße verlassen und über die Dörfer Richtung Süden fahren. Doch als wir kurz an einer Kreuzung anhalten und mit einem Mann ins Gespräch kommen, rät der uns eindringlich von der Straße ab. Da wir auf seine Bedenken nicht so richtig eingehen, werden die Leute von dem kleinen Shop sowie ein Taxifahrer mobilisiert, um uns auf Englisch von der schlechten Straße abzuraten. Als wir die Worte Fluss, steil und Schlamm hören, sehen wir dann aber ein, dass wir wohl doch lieber umdrehen sollten. Katschik ist sichtlich erleichtert über unsere Entscheidung und möchte uns nun mit seinem Auto zur richtigen Straße geleiten, natürlich mit Warnblinker. Auf einmal hält er an und wir rollen zu seiner Autotür. Er möchte uns jetzt nicht so einfach gehen lassen, erst sollen wir noch auf einen Tee mit zu ihm nach Hause kommen.

Wir betreten die mollig warme Küche und werden mit freudigen Augen von seiner Frau Anna und seinen beiden Töchtern Anusch und Alla begrüßt. Auch die 92-jährige Großmutter Rosa auf der Eckbank nickt uns begrüßend zu. Bei einem Tee soll es allerdings nicht bleiben, in kürzester Zeit wird der Tisch reichlich gedeckt, aus dem Keller werden eingelegte Sachen, selbstgemachter Wein und süßer Saft aus eingelegten Früchten geholt. Vor uns steht ein Festmahl und fünf herzliche, freudig schauende Menschen sitzen uns gegenüber. Während wir die Köstlichkeiten probieren, wird uns immer wieder der Weg gen Süden erklärt, wir lauschen den Deutschkenntnissen von Katschik und erfahren, dass eigentlich alles was wir essen selbst angebaut oder selbst gesammelt ist. Wir zeigen unsere analogen Familienfotos, was immer wieder gut ankommt und genießen die herzliche Atmosphäre.

Schweren Herzens lässt und die Familie dann doch wieder auf die Räder steigen, denn eigentlich hätten wir unser Zelt direkt im Garten aufbauen sollen. Aber bis zur großen Straße möchte uns Katschik nun doch noch begleiten und eskortiert uns ein weiteres Mal durch Martuni. Als wir uns nach seiner Meinung nun auch wirklich nicht mehr verfahren können, hält er am Straßenrand an und wir verabschieden uns herzlich von ihm. Dachten wir zumindest, denn plötzlich wird das Gewitter wieder richtig heftig. Wir warten also noch eine Weile auf der Rückbank, bis sich das Wetter wieder beruhigt hat und dann ist es wirklich Zeit für den Abschied.

Wir radeln in Richtung Süden. Doch wirklich weit kommen wir nicht. Nach etwa fünf Minuten suchen wir Schutz unter einem Tankstellendach und nach weiteren fünf Kilometern finden wir uns erneut unter einem Dach wieder, um uns vor dem nächsten heftigen Gewitter mit Starkregen zu schützen. Im Haus gegenüber steht ein Mann am Fenster, der uns immer wieder hineinwinkt, aber wir lehnen es dankend ab, denn immerhin wollen wir ja heute eigentlich noch den Pass beradeln. Doch da es einfach nicht aufhören will zu gewittern, wir langsam auskühlen und der Mann uns nun immer vehementer hebeiruft, schieben wir die Räder letztendlich doch über die Straße.

Als Doris uns in sein Wohnzimmer führt und wir am Ofen Platz nehmen, merken wir wie kalt es uns eigentlich wirklich ist. Im Sessel neben uns sitzt die Großmutter Uranik, die uns lächelnd begutachtet. Kurze Zeit später kommt Lusine ins Wohnzimmer und bereitet uns Tee und frisches Obst zu. Schon wieder erfahren wir diese herzliche Wärme.
Wir unterhalten uns mit Doris auch etwas tiefgreifender und wir spüren die Nähe zu Russland in seinen Worten. Auch der Zusammenbruch der Sowjetunion wird eher mit einem weinenden Auge gesehen. Doris erzählt uns, dass durch die Schließung der vielen Fabriken nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr viele Menschen arbeitslos geworden sind. Das erinnert uns ein wenig an die neuen Bundesländer nach dem Fall der Mauer.

Immer wieder hören wir von den Menschen, dass die Arbeitslosigkeit gerade im ländlichen Raum noch sehr hoch ist. Die pulsierende Stadt Jerewan steht wohl im Gegensatz dazu. Auch von Lusine erfahren wir später, dass es wenig Arbeit gibt. Etwas beschämt sagt sie uns, dass auch sie keine Arbeit hat und sich „nur“ um den Garten und das Haus kümmert.
Doch wenn man sieht wie all die Menschen, die wir getroffen haben, sich selbst versorgen, kann man da wohl nicht von „arbeitslos“ oder „nur ums Haus kümmern“ sprechen. Immer wieder hören wir, dass die meisten Sachen selbst gebaut, selbst repariert, selbst gerentet oder einfach selbst gemacht sind.

Als es draußen nur noch regnet und sich das Gewitter gelegt hat, wollen wir wieder aufbrechen. Aber Doris ist der Meinung, dass wir nicht gehen können ohne etwas zu essen und ja dann auch gleich hier schlafen können. Wir werden in die Küche geführt und nehmen schon wieder an einem reich gedeckten Tisch Platz. Wieder stehen so viele Köstlichkeiten, die auch hier aus der Selbstversorgung stammen, vor uns. Immer wieder wird uns mehr auf die Teller gepackt und es wird darauf geachtet, dass wir auch wirklich alle Leckereien probieren. Dabei herrscht eine amüsante und heitere Stimmung. Auch wenn wir ohne googli kein Wort mehr verstehen, ist das Lachen immer wieder ansteckend. Um den obligatorischen selbstgemachten Cognac kommen wir auch hier nicht herum.

Nach einem letzten Kaffee und Tee mit reichlich Äpfeln reißen wir uns los und verabschieden uns herzlich von den drei lieben Menschen. Der Regen hat sich mittlerweile gelegt und gegen halb fünf starten wir nun wirklich in Richtung Selim Pass.

An einem Tag wie diesem ist die unglaubliche Natur doch irgendwie nur Nebensache, obwohl sie so wunderschön ist. Vor uns liegen saftige Wiesen, die selbst bei dem Nebel noch grün leuchten. Ein kleiner Bach schlängelt sich hindurch. Wir sehen Hirten in kleinen Bergdörfern und eine Herde Pferde galoppiert vor uns davon. Die pure Idylle. Irgendwann erreichen wir die Passhöhe mit 2.410 Meter über Meereshöhe und auch das wird bei all den Ereignissen und wunderbaren Begegnungen heute eher zur Nebensache.

Am Ende dieses Tages bauen wir unser Zelt neben einer Karawanserei auf. Zum Kochen und duschen nutzen wir die kleine Halle, die einst der Stall der Tiere war, um uns vor dem eisigen Wind zu schützen. Es ist ein wunderbarer Ort mit so viel Vergangenheit und wir können es nicht fassen, dass wir heute früh noch am Sevan See lagen.

Am nächsten Morgen ist nichts mehr von dem rauen Wetter zu spüren und wir genießen unser Müsli mit Talblick in der Sonne. Währenddessen kommt ein Lada angerattert und wird binnen weniger Minuten in einen Mini Markt verwandelt. Jeden Tag kommen die beiden aus dem Dorf hier hochgefahren, um ihre Produkte an Besucher zu verkaufen. Außerdem erzählen Sie uns, dass sie von der Regierung etwas Unterstützung erhalten, wenn sie nach der Karawanserei schauen. Wir kommen dadurch nun endlich in den Genuss von selbstgemachtem, armenischem Granatapfelwein und wie es der Verkäufer so schön sagt, armenischem Snickers namens Sujukh.

Vor uns liegt eine etwa 35 km lange Abfahrt, bevor es nach Getap wieder langsam bergauf zum nächsten Pass geht. Die Tage sind geprägt von einer ständig wechselnden Natur. Aus Hochgebirgslandschaft werden dreifarbige Felsen und Canyons. Wir entdecken saftig grüne Obstwiesen vor schroffen Felswänden sowie trockene, karge und nur mit einigen Büschen bedeckte Berge. Es folgen Schluchten aus dunklem Gestein mit viel Grün und am Ende landen wir wieder in einem Canyon.

Als wir den Vorotan Pass nach oben strampeln taucht er auf einmal auf, ohne dass wir damit rechnen. Wir blicken eher zufällig zurück und es wirkt beinahe als schwebt er in der Luft über dem Bergpanorama. Der Ararat! Der heilige Berg Armeniens, der sich hinter den Grenzzäunen in der Türkei befindet. Es ist ein schöner Moment und ja, dieser Berg hat etwas Faszinierendes, etwas Anmutiges. Wir stehen kurz da, halten inne und schauen einfach nur auf diesen schneebedeckten, weißen Kegel am Horizont! Groß ist die Freude darüber, dass wir ihn nun doch noch sehen, obwohl wir uns gegen die Route über Jerewan entschieden haben.

Wieder sehen wir überall in den Bergwiesen die Menschen etwas sammeln, wie eigentlich in ganz Armenien. Diesmal decken wir uns an einem Straßenrand mit wildem Spargel und Pilzen ein. Am Ende des Tages kochen wir uns daraus ein kleines Festmahl.

Als wir die Passhöhe auf 2.344 m erreichen, erleben wir den nächsten, schönen, bewegenden Moment. Vor dem Passdenkmal steht ein kleines Schild mit „Armenische Seidenstraße“. „Seidenstraße“, dieses Wort lässt unsere Gedanken in eine andere Zeit schweifen und macht den Weg, auf dem wir radeln, doch irgendwie besonders, denn es gibt diese Handelsroute schon so lange und sie gilt seit jeher als Weg für Händler, Nomaden und Reisende.

Ermüdet von den letzten Tagen quälen wir uns wieder auf die Räder und radeln weiter ostwärts. Auf dieser Strecke treffen wir gleich vier andere Radler sowohl aus Italien als auch aus dem Iran. Seit wir auf der M2 unterwegs sind ist der Verkehr rauer geworden. Die Straße, die nach Jerewan führt, ist gesäumt von rasenden, modernen Autos, vielen LKWs und Militärkonvoys. Busse voller Soldaten, schweres Gerät und Trupps mit russischen Fahnen rasen an uns vorbei. Es ist ein erdrückendes Gefühl. So quälen wir uns mehr schlecht als recht über die M2 bis zu unserem Abzweig, der uns nach Kapan führen wird.

Dann erstreckt sich in der südlichsten Region Armeniens (Syunik) auf einmal ein unglaubliches Naturschauspiel vor uns. Die Vorotan-Schlucht. Wir dürfen netterweise bei einem Restaurant zelten und heben uns nach den anstrengenden 70 km die letzten Serpentinen nach Tatev, die auf gut sechs Kilometern knappe 600 Meter nach oben führen, dann doch lieber für den nächsten Tag auf.

In Tatev wollen wir eigentlich eine Weile bleiben, um wandern zu gehen. Doch manchmal kommt es eben anders als man denkt. Bim wacht mit Bauchkrämpfen auf, Isis Reifen ist in der ersten Serpentine platt. Nach der Reparatur quälen wir uns Serpentine für Serpentine nach oben. Irgendwann hält ein LKW-Fahrer an und gibt uns zu verstehen, dass wir uns hinten dranhängen können. Dieses Angebot lassen wir uns nicht entgehen und so halten wir uns hinten links und rechts fest und lassen uns auf den Rädern ein Stück ziehen. Da es so steil ist, ist der LKW dann aber so überhitzt, dass erst einmal Wasser nachgefüllt werden muss und wir nun wieder mit 4 km/h selbst hochstrampeln, als mit 8 km/h gezogen zu werden.
Irgendwann sind wir endlich oben und ziehen in das Old Tatev Gästehaus ein. Aus dem Wandern wird zwar nichts, aber wir können uns mit Dach über dem Kopf auskurieren und werden von Vargo und seiner Mutter mit teils magenschonender und teils armenischer Kost und frischem Bergkräutertee umsorgt. 

Gestärkt und ausgeruht geht es bei bestem Sonnenschein den Yeznarot Pass (1965m) hoch und dahinter erwartet uns wieder ein ganz anderes Landschaftsbild. Wir genießen die lange Abfahrt nach Kapan. Auch hier treffen wir wieder einen anderen Radler, diesmal aus Frankreich. Er kommt gerade aus dem Iran und so tauschen wir noch ein paar hilfreiche Infos aus, bevor sich unsere Wege wieder trennen. So viele andere Radreisende wie in Armenien haben wir bisher in noch keinem Land getroffen. 

Bevor wir die Stadt erreichen sind wir noch einmal richtig nah an der Konfliktregion Bergkarabach. Auf der anderen Seite des Flusses wackelt die aserbaidschanische Fahne im Wind und die Militärpräsenz ist hoch. Es ist ein mulmiges Gefühl.

In Kapan spürt man wenig davon. Die Straßen sind voll mit Menschen, Kinder spielen überall, alte Männer zocken Backgammon oder Karten. Es ist eine quirlige Stimmung.

Vor uns liegt ein letzter Pass. Ein letztes Mal über die Berge des Südkaukasus. Ein letztes Mal quälen. Insgesamt fahren wir in Armenien 600 km und ca. 10.000 Höhenmeter. Wenn wir uns recht erinnern, hatten wir in Armenien nicht ein flaches Stück. Ein Land aus Bergen, das uns an unsere Grenzen gebracht hätte, wären da nicht überall die wunderbaren Menschen, die uns besonders dann zur Seite standen, wenn es mal nicht lief, uns aber auch täglich das Radfahren hier versüßt haben.

Doch bevor wir [stestun] sagen heißt es nun noch einmal hoch in die Wolken. Für den letzten Pass müssen wir von ca. 800 m über Meereshöhe auf 2.535 m hoch strampeln. Es geht ca. 35 km nur bergauf. Als wir gegen späten Nachmittag das Passschild erreichen sind wir völlig im Eimer aber auch überglücklich. Danach rollen wir wieder ca. 35 km nach unten. Nach einem letzten grünen Rausch wird die Landschaft immer karger und trockener, die Temperaturen werden milder. Am Abend erreichen wir Meghri, vor uns liegt eine karge, massive Felswand. Vor uns liegt Iran!

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Karen Schröder

    Moin!
    Die Fotos sind wieder beeindruckend: kaum ein Stück des Weges im Flachland , das ist eine besondere Herausforderung. Bei einigen Begriffen muss ich schmunzeln: Kusine heißt eine Figur aus dem Kieler Leseaufbau. Doris hatte ich immer für eine Frau gehalten . Iriwan: im NDR-Radio gab es früher, als ich Kind war, eine Satiresendung, die hieß Radio Iriwan… Der Ararat als Landepunkt für Noahs Arche ist bestimmt interessant. Euer Vergleich der veränderten Staatssysteme DDR und Teilrepublik der UDSSR stimmt nachdenklich. In Armenien sind die Leute wohl alle Überlebenskünstler….