In Fethyie staunen wir über die uns unbekannte Welt der Lykier. Wir folgen dem Küstenverlauf und erkunden einen der wohl schönsten Abschnitte des Mittelmeeres, bevor wir in Antalya die Räder gegen Hammer und Säge tauschen.
Schon bei der Abfahrt aus den Bergen in Richtung Mittelmeer wird es mit jedem Höhenmeter wärmer. In Fethyie erwartet uns traumhaftes Spätsommerwetter. Wir haben es wohl noch ein letztes Mal geschafft dem Herbst davon zu fahren. Wir bleiben ein paar Tage und genießen das schöne Panorama der Stadt, die sich zwischen die großen Berge und das türkisblaue Meer mit all den kleinen Inseln zwängt.
Was vor uns liegt ist das gebirgige Land der Lykier, die vor ca. 4.000 Jahren hier an der Küste gesiedelt haben und wovon viele Ruinen zeugen. Aufgrund der hohen Berge lebten sie lange geografisch abgeschieden von der Umwelt. Durch Diplomatie und Handelsgeschick, gelang es ihnen viele Jahre weitestgehend unabhängig von großen Imperien wie z. B. den Römern zu existieren. Sie hatten nicht nur ihre eigene Sprache und eigene Götter, sondern auch eine eigene Schrift. Die auffälligsten Hinterlassenschaften der Lykier aber gehören den Toten. Etliche Felsgräber sind wie Waben in die schroffen Felswände gehauen.
Bevor wir uns wieder auf den Weg begeben, schauen wir in einem kleinen Lokum-Laden vorbei. Mit viel zu großen Augen und einem unterlegenen Verhandlungsgeschick der Verkäuferin gegenüber, lassen wir uns eine riesige Box zusammenstellen. Es ist ja nicht so, dass wir diese Leckereien nicht essen wollen, sondern dass wir jetzt schlicht ein Kilo mehr Ballast die Berge hinaufbefördern müssen.
Die Bergetappe hin zum Mittelmeer steckt uns noch immer gut in den Beinen, denn mit der Erschöpfung ist es ja so eine Sache, man spürt sie erst richtig, wenn man mal zur Ruhe kommt. Entsprechend ausgelaugt sitzen wir nach unseren zwei Tagen Pause wieder auf den Rädern, als wir Fethyie verlassen. In dieser Verfassung stehen wir an einer Kreuzung und müssen uns entscheiden, wie wir die vor uns liegende Landzunge überwinden wollen. Nehmen wir den flacheren Weg über die Bundesstraße oder doch die kleine, steile Bergetappe. Nunja wir entscheiden uns mal wieder für die schweißtreibende, anstrengende aber auch wunderschöne Variante.
Es ist schon erstaunlich, wie man Veränderungen aufnimmt und sich mit der neuen Situation zurechtfindet. Geschehen die Veränderungen allmählich oder vergisst man zurückzublicken, so nimmt man die veränderte Situation wohl gar nicht war. Wir merken dies auf unserer Reise extrem deutlich, unsere Wahrnehmungen ändern sich ständig und schwubs sind die neuen Gepflogenheiten Alltag.
Ein Beispiel: das Radeln über Berge. Fanden wir anfangs noch Anstiege mit 5 – 6 % recht steil, so ist dies mit den türkischen Bergen doch zur „flachen“ Normalität geworden. Umso tiefer wir in die Berge auf kleinen Straßen vordringen, desto normaler werden für uns 10-12% und wir kneifen die Augen erst zusammen, wenn vor uns eine Straße mit guten 15% Steigung nach oben geht.
Wir beginnen unseren Weg aus Fethyie nun also mit einer augenverdrehenden, ca. 20 % steilen, schnurrgeraden Straße in die Berge! Da haben selbst die Autos ordentlich zu kämpfen. Irgendwann kommen uns glücklicherweise die Serpentinen zur Hilfe und wir schrauben uns immer weiter nach oben, um dann nach ein paar Kilometern und einem Gipfellokum wieder hinunter an das Meer rollen zu können. In der Abenddämmerung schnaufen wir die traumhafte Küstenstraße hinter Öludeniz entlang. Links von uns: die massiven Felswände, die in mächtigen Gebirgszügen enden und mit dem knapp 2.000 m hohen Babadağ ihren Höhepunkt haben. Rechts von uns: einsame, türkis schimmernde Buchten, die sich fließend in das weite Meer erstrecken. Es riecht nach Pinien, Meer und Sommerurlaub!
Die Küstenstraße endet für uns in einer atemberaubenden Bucht, die sich in einer eindrucksvollen Schlucht befindet. Kurz vor Sonnenuntergang stehen wir auf gut 300 Metern und blicken die steilen Felsklippen der Schmetterlingsbucht hinunter. Wir stellen unser Zelt im Garten einer Pension auf und sind umgeben von gewaltigen Felswänden. Dadurch schallt nicht nur der Muezzingesang in schrillen Tönen zwischen den Bergen, sondern wir können auch den Hähnen die ganze Nacht beim lautstarken, gegenseitigen Übertrumpfen lauschen.
Am nächsten Tag befördern wir etwas müde vom ganzen Kikeriki unsere gut bepackten Räder noch weiter nach oben. Eine kleine Straße führt in unzähligen Serpentinen immer weiter nach oben. Das uns umgebende Bergpanorama ist eindrucksvoll! Massiv! Überwältigend!
Wir erklimmen die Passhöhe auf über tausend Metern und rollen durch das kleine, einsame Bergdorf auf dem Pass. Es ist ruhig, gar still. Man hört nur vereinzelt eine Ziege blöken oder eine Schafsglocke läuten. Wir genießen den Moment, bevor wir uns in warme Sachen einmummeln, ein Gipfellokum naschen, um die Süßigkeitenlast weiter zu minimieren und wieder ans Meer rollen!
Erst im Dunkeln erreichen wir das touristische Dorf Gelemiş. Da der Campingplatz hier fast genauso teuer ist wie ein Zimmer, entscheiden wir uns für die Luxusvariante, essen noch einen leckeren Kebap in einem gemütlichen Familienrestaurant und fallen im Anschluss mit schweren Beinen ins Bett.
Nach einem ausgiebigen Frühstück auf Balkonien machen wir uns auf den Weg zu den Ruinen von Nikolaus Geburtsstadt, der alten lykischen Stadt Patara. Neben all den Ruinen und Säulen, gibt es auch hier wieder ein sehr gut erhaltenes Theater zu sehen, welches an die griechische Baukunst erinnert. Der antike Hafen soll wohl damals irgendwann versandet sein. Als wir im Anschluss zum riesigen Sanddünenstrand laufen, können wir uns das sehr gut vorstellen.
Der ca. 12 km lange Sandstrand befindet sich unter Naturschutz, weshalb man außer den Ruinen auch kein einziges Bauwerk weit und breit erblicken kann. Kilometerweit nur Sand und Meer, umrahmt von grünen Hügeln und einem Bergpanorama, welches wir in den letzten Tagen überwunden haben. Es sieht ein bisschen aus wie in der Wüste, der Wind pfeift und wir stapfen auf den tanzenden Sandkörnern bis zur Spitze der Dünen, wo wir auf den Sonnenuntergang warten.
Nachts ist der Strand gesperrt, da es sich um ein Brutgebiet der vom Aussterben bedrohten Caretta-Caretta-Meeresschildkröte handelt. Im Frühsommer legen diese hier ihre Eier ab und etwa zwei Monate später schlüpfen nachts unzählige Babyschildkröten, denen das Mondlicht den Weg zum Wasser weist.
In den nächsten Tagen radeln wir weiter im strahlenden Sonnenschein entlang der Küste und stellen uns dabei den nächsten Bergen. Hinter Kaș führt uns der Weg ins Landesinnere und wir arbeiten uns mal wieder Stück für Stück nach oben. Die Sonne gibt uns dabei den Rest und wir trinken bei den sommerlichen Temperaturen Ende November so viel Wasser wie schon lange nicht mehr. Oben angekommen werden wir wieder mit tollen Aussichten belohnt, bevor es wieder heißt: Umziehen für die Abfahrt! Wir rollen ca. 12 km nach unten und befinden uns weiterhin auf den Spuren des heiligen Nikolaus, der hier im antiken Myra als Bischof gewirkt haben soll. Das heutige Demre besteht vor allem aus Gewächshäusern und erinnert uns deshalb ein wenig an Andalusien in Spanien.
Hinter Demre fahren wir immer entlang der wunderschönen Küstenstraße mit Blick auf unzählige, kleine Traumbuchten und kommen aus dem Staunen über diese natürliche Schönheit mal wieder nicht mehr raus. In Finike werden wir sogar mit einem echten Radweg überrascht, der 15 km am Strand entlangführt. So lange sind wir schon ewig nicht mehr auf flachem Terrain geradeaus gefahren. Wir könnten fast fliegen, wenn da nicht dieser garstige Gegenwind wäre. Auch diese flache Ebene zwischen den Bergen ist gesäumt von unzähligen Gewächshäusern.
Hinter der Ebene erreichen wir den Olimpos Beydağları Millî Parkı, dessen Gebirgszüge und canyonartige Schluchten sich bis Antalya erstrecken. In der antiken Stadt Olympos säumen heute etliche Campingplätze, Holzhäuser und Souvenirshops die Straße. Wir sind froh über unsere Reisezeit, denn im Sommer muss hier wohl die Hölle los sein. Nun heißt es nochmal ordentlich pumpen bis zum nächsten Gipfel, wo wir dann leider wieder auf die große Bundesstraße müssen. Zum Glück ist die Straße recht neu und zumindest größtenteils mit einem breiten Seitenstreifen versehen, sodass wir uns meistens recht sicher fühlen.
Irgendwann beginnt eine längere Baustelle, aber wir nutzen die fast fertige, neue Fahrbahn, um dem großen Verkehr zu entkommen. Doch irgendwann endet auch diese vor einem Tunnel, der sich gerade noch im Bau befindet. Wir fragen nach, ob wir vielleicht durchfahren dürfen, um erstens dem großen Verkehr auf der engen Umgehungsstraße zu entkommen und zweitens, ein paar Höhenmeter zu sparen. Der junge Bauleiter ist nicht gerade begeistert von unserer Idee, aber der Seniorchef lacht und willigt sofort ein. Wir sollen das Licht anmachen und schön langsam fahren und rattern kurze Zeit später glücklich durch den unfertigen, dunklen Tunnel.
Spätestens ab Kemer wird deutlich, dass wir uns nun im Urlaubsgebiet an der türkischen Riviera befinden, welches sich bis nach Side an der Küste erstreckt. Hotels soweit das Auge reicht. Wieder in der Natur bleibt uns hinter der Stadt nur noch die große, vielbefahrene D400. Die Bundesstraße ohne Seitenstreifen ist eng und wir fühlen uns nicht wohl. Das letzte Stück von Kemer bis Antalya gleicht meistens einem Höllentrip, denn wir müssen zudem noch einige Tunnel durchqueren. Das Dröhnen und Donnern, allein wenn uns PKWs im Tunnel überholen, ist sehr unangenehm. Doch bei einem LKW wird es schier unerträglich und wir sehnen das Tunnelende herbei.
Bei dem Gedanken daran, diese Straße die nächsten gut 400 km bis Adana zu beradeln wird uns schlecht und wir suchen nach Alternativen. Aber dies ist nicht so einfach. Das Taurusgebirge lässt keinen Platz für kleinere Straßen und uns läuft die Zeit davon, denn unsere Visafreiheit geht dem Ende zu. Außerdem steht der Winter bevor und wir sind, gelinde gesagt, im Eimer. Seit Pamukkale fahren wir im Schnitt 50 km und 1.000 Höhenmeter pro Tag. Unsere Körper sind richtig erschöpft und wir brauchen eigentlich eine Pause.
Im Norden von Antalya finden wir ein Workaway und wir entscheiden uns ein paar Tage auf das Radfahren zu verzichten. Wir kommen bei einer Familie unter, die vorsichtig gesagt, in ihrer eigenen Welt lebt.
Der Vater ist gute 70 Jahre jung, schreibt Songtexte und Melodien für Wikingermusik. Seine Frau ist etwas jünger, sie ist ebenfalls Musikerin sowie Künstlerin, wirkt die ganze Zeit über verstimmt, abwesend und befindet sich wohl gerade in einem Tief. Wir sehen sie so gut wie nie und wenn dann werden wir eher ignoriert, als dass sie mit uns spricht. Der jüngste Sohn ist gute zwanzig Jahre alt, er ist musikalisch und künstlerisch talentiert, aber wohl auch das, was man sich unter einem Nachzügler vorstellt. Zu guter Letzt kommt noch der Großvater, der genau wie die Frau aus Russland stammt. Da er ausschließlich Russisch spricht, reicht es nur für Smalltalk. Außerdem gibt es da noch Ben, er ist schon seit einem Monat als volunteer hier und wird von der Familie vergöttert.
Untergebracht sind wir in einer kleinen Rumpelkammer, die neben unserem Schlafplatz als Lagerraum, Abstellkammer und Werkstatt dient.
Nun ist es schwierig, über eine Situation zu schreiben, bei der selbst wir nicht wissen, wie wir sie beschreiben sollen. Wir bleiben eine Woche bei der Familie und am Ende sind wir einfach froh, dass wir wieder weg sind. Die Situation hat sich immer weiter zugespitzt und so waren wir schlussendlich nur noch genervt.
Was genau dies ausgelöst hat ist schwierig zu sagen. Denn auf der einen Seite wurden wir aufgenommen, hatten ein Dach über dem Kopf und haben jeden Tag etwas zu essen bekommen. Auch wenn wir ein Problem oder eine Frage hatten, hat sich der sehr weltoffene Vater gern um uns gekümmert und uns geholfen.
Doch im Gegenzug wurde uns immer wieder gezeigt, dass wir nur volunteers zweiter Klasse seien. Es wurde ständig über das „unglaubliche Talent des Sohnes“ gesprochen und wir wurden so gut wie nie in diesen Monolog eingebunden. Gegen Ende der Woche wurden wir gefragt, ob wir denn mit dem Fahrrad hierhergekommen sind. Diese Tatsache macht vielleicht deutlich, wie groß das Interesse an uns war.
Uns wurde gepredigt wie wichtig es ist, die Küchensachen von dem Tierfutter zu trennen und dabei gab es eine extra Kochecke für die Volunteers auf denen das Hundefutter gekocht wurde und das Vogelfutter verstaut wurde. Für unser Frühstück mussten wir jeden Tag an der Haustür klopfen, um dann abgezählte Eier und rationiertes Brot zu bekommen. Das Wort „Lady“ wurde bis zum letzten Tag als Synonym für den nicht bekannten Namen verwendet.
Nun sind all diese Sachen an sich nicht so schlimm und wir hätten uns mit jeder Begebenheit ohne Probleme arrangiert. Viel mehr war es die Differenzierung und Einteilung in „Klassen“, die uns hier so negativ aufstößt und sich mit jedem Ereignis zuspitzte. Die Widersprüche zwischen suggerierter Weltoffenheit und dem Handeln an sich verunsicherten uns.
Es hätte so schön sein können. Denn wenn wir tagsüber mit Ben dabei waren unserer Arbeit nachzugehen, hatten wir dabei richtig viel Spaß. Schleifen, Sägen, Hämmern und Schritt für Schritt entsteht ein kleines Holzhaus. Unterbrochen wurden diese Momente dann aber leider oft durch eine völlig neue Aufgabenverteilung von der Geschäftsleitung. So wurden wir einmal aus der Arbeit gerissen, um im Wald Zweige zu sammeln, damit der Sohn daraus etwas basteln kann. Danach sollten wir einen Schrottplatz von einer Ecke des Gartens in eine andere Ecke räumen, weil der Großvater hier irgendwann, vielleicht ein Vogelhaus hinhaben möchte. Am Abend wurden wir dann gefragt, warum wir nicht so viel am Holzhaus geschafft haben.
Nach dieser Woche Pause und Zweiklassengesellschaft sind wir froh, endlich von dannen zu radeln. Mit einer gemeisterten Situation mehr im Gepäck, fühlt es sich herrlich an wieder frei zu sein und den Fahrtwind im Gesicht zu spüren. Die ursprüngliche Idee, den Winter in Antalya zu verbringen und eine Aufenthaltsgenehmigung über die Familie zu bekommen, haben wir durch die Erfahrungen vor Ort doch recht schnell wieder verworfen.
Wir verbringen noch zwei Tage in Antalya und freuen uns nun auf die Zentraltürkei und neue Abenteuer. Ein Plan für den Winter wird sich schon irgendwie noch finden.
Liebe Rturkeireisende!
Mit Lykuen wärt ihr in einem Gebiet unterwegs, das Schrödi bereist hat und von dem sie immer noch schwärmt. Jahrelang stand ein gerahmtes Foto von den lykuschen Gräbern bei uns auf der Fensterbank…. Vom Myra und dem Nikolaus erzählt Schrödi auch noch gern. Ich kann mir gut vorstellen, dass dir touristisch bekannten Orte in der warmen Jahreszeit überlaufen sind. Wie gut, dass ihr letztendlich so ein schönes Winterquartier gefunden habt.
Einen guten Start ins Vorfruhjahr wünschen euch Renate und Karen ☀️🌊