Wir packen zum ersten Mal unsere Surfbretter vom Anhänger und genießen den indonesischen Ozean im Wasser, bevor es wieder auf die Räder über Land gen Osten geht. Es erwartet uns ein ständiges Auf und Ab der Gefühle und der Landschaften. Stets auf der Suche nach der nötigen Motivation.
Die Tage in Cimaja sind einfach nur traumhaft. Wir finden eine kleine Bambushütte direkt am Ozean. Wenn wir früh am Morgen die Holzläden nach oben schieben, schwappt die Gischt direkt in unsere Hütte.
Wir beladen den Anhänger, koppeln ihn mit einem Klick an und rollen keine zwei Kilometer zum Surfspot, wo uns Andri bereits mit offenen Armen empfängt. So als kennen wir uns schon ewig. Er ist ein Freund von Ardhy und Irene und unser Anlaufpunkt in Cimaja. Wenig später stürzen wir uns endlich in die Wellen. Kurz darauf merken wir auch direkt wieder, wer hier das Sagen hat. Das ist uns aber völlig egal, denn es tut einfach nur gut, die Wellen, der Geruch nach Salz und frischer Meeresluft, das laute Brausen der Brandung und die Energie des Ozeans zu spüren! Wir genießen es unendlich!
Zurück am Strand lernen wir Andris Familie kennen. Seine Mutter hat einen kleinen warung direkt neben der Surfschule. Sie wird uns nicht nur einmal das köstlichste karedok von ganz Java zubereiten. Auch der Vater von Andri ist mit hier. Seine Leidenschaft als Rettungsschwimmer sieht man ihm noch immer an. Stets ein Auge auf die Wellen gerichtet, springt er des Öfteren auf und holt die Kinder mit einem schrillen Pfiff durch die kleine Pfeife an seinem Hals zurück an den Strand. Meist schläft er sogar die Nacht über hier und passt auf den warung und die Surfschule auf.
Die nächsten Tage sollen die Wellen noch größer werden, was eindeutig ein Level zu hoch für uns ist. Andri verrät uns ein paar andere Surfspots in der Gegend. Auf die Frage, ob die Straße dahin bergig ist, antwortet er mit einem leichten Zögern: „Eher nicht.“
Grund genug, selbst einmal nachzuschauen um dann direkt zu merken, dass das nichts wird mit dem Rad und schon gar nicht mit dem Anhänger! Die nächsten Tage werden wir auf dem Moped unterwegs sein, was wir uns bei Andri ausleihen können. Unsere Beine brauchen nach der Bergeetappe von Nord- nach Südjava definitiv eine Pause.
Wir sitzen im Wasser einer kleinen Bucht, die etwas im Schatten des großen Swells liegt und uns mit definierten, kleineren Wellen ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Die grünen Regenwaldhänge fallen steil ab in das türkisblaue Meer. Kleine und große Fischerboote schaukeln vor dem kleinen Hafen und ab und zu sticht eins in die offene See.
Die Stimmung im Wasser ist heiter und freundlich und wir sind in kürzester Zeit in den nächsten Plausch mit den einheimischen Surfern verwickelt. Die meisten, die hier im Wasser sind, arbeiten als Fischer und wenn sie gerade nicht mit dem Boot draußen sind, dann genießen sie ebenfalls die Wellen. Die Jüngeren teilen sich eins der älteren Bretter und jedes Mal, wenn ein anderer das Brett bekommt, paddelt dieser mit einem breiten Lächeln raus ins Line-Up.
Nach dem Surfen sitzen wir noch ein wenig am kleinen Fischerhafen und genießen einen kopi hitam. Die Arbeit der Fischer ist so gut wie erledigt und der ein oder andere sitzt auch bereits bei seinem wohlverdientem kopi, allerdings ist dieser mit Sicherheit mit ordentlich Zucker bestückt. Die Fische werden aus den Netzen in Styroporbehälter sortiert und anschließend mit dem Scooter zum nächsten Marktstand befördert.
Irgendwann in diesen Tagen bekommen wir eine Nachricht von einem guten Freund von zu Hause. Er fragt: „Was motiviert euch eigentlich?“
Die erste Antwort fällt leicht, wir blicken auf und vor uns liegt der indische Ozean. Ist das nicht Motivation genug? Doch die Frage beschäftigt uns weiter. Warum quälen wir uns immer wieder durch diese teilweise so widrigen Bedingungen? Die Frage geistert noch lange in unseren Köpfen herum und begleitet uns die nächsten Tage. Immer auf der Suche nach einer Antwort.
Wir packen unsere sieben Sachen. Nach einer knappen Woche in Cimaja müssen und wollen wir weiter gen Osten. Die Tage in den Wellen waren wunderbar, aber als wir die ersten Meter rollen, wird uns das Offensichtliche bewusst. Radfahren und in den Pausen Wellenreiten, trägt nicht unbedingt zur allgemeinen Erholung des Körpers bei.
Noch dazu hat sich in den letzten Tagen der Zauber der Unterkunft verzogen und die dröhnenden Bässe, die besoffenen australischen Opis in ihrem zweiten Frühling und quietschenden Stimmen der indonesischen Karaoke-Realität haben uns wertvollen Schlaf geraubt…
Wir folgen dem Küstenverlauf auf der großen Straße. Der unangenehme Wochenendverkehr der vollen Hauptstraße stresst uns zusätzlich. Ist unsere Energie schon wieder aufgebraucht? Wir merken deutlich, dass wir immer schneller an unsere Belastungsgrenzen stoßen. Die Pausen, die wir machen, füllen unseren Energietank zwar auf, doch es wirkt als fehlt unserem Treibstoff der Brennwert.
In Pelabuhan Ratu, wo wir einst den Ozean erreicht haben, können wir endlich von der überfüllten Straße abbiegen. Die Ruhe entspannt die Gemüter. Zumindest kurz, denn schon wenig später wird aus der schönen Asphaltstraße ein holpriger Pfad, der einen Hügel hinaufführt. Man muss sich entscheiden, ob das Fahrrad oder der Anhänger in eine der Furchen des Weges rollen soll. Das Fahren ist nicht nur anstrengend, sondern auch unangenehm. Zudem wissen wir nie, was aus dem Weg noch wird und ob er vielleicht doch noch in einer Sackgasse endet…
Irgendwann erreichen wir eine Siedlung mit ein paar Holzhäusern. Die kleinen Kinder am Wegesrand schauen uns an, als wären wir Außerirdische. Die älteren Menschen schenken uns ein herzliches Lächeln und als dann der Weg wieder zu einer Schotterpiste wird, atmen wir auf.
Doch lange wehrt auch dieses Hoch nicht. Die Küstenstraße ist unglaublich schön, aber eben auch erbarmungslos steil. Immer wieder geht es hoch und runter, meist mit 15 bis 20 % Gefälle. Oft sind die Anstiege nicht lang, aber wir schaffen es trotzdem nicht sie alleine hochzuradeln. Wir müssen den Hänger schieben, manchmal auch unsere Räder zu zweit. Jeden steileren Anstieg, überwinden wir quasi zwei bis drei Mal.
Anschließend sitzen wir wieder auf den Rädern, treten müde und erschöpft in die Pedale. Die Sonne brennt unermüdlich und schmerzt auf der bloßen Haut, die Luftfeuchte ist hoch und lässt uns im Dauerschwitzmodus verharren, die Bewegung schmerzt in Knie und Oberschenkel. Was haben wir uns hier nur angetan? Warum machen wir das alles? Da ist sie wieder, die Frage. Was motiviert uns eigentlich?
In diesem Moment wäre die Antwort wohl: gar nichts! So erschöpft und am Boden waren wir bis jetzt nur sehr selten auf unserer Reise. Wir sind vielleicht um die 30 Kilometer geradelt und der eigentliche Hammer steht uns noch bevor, ein steiler, langer Aufstieg. Doch schon bevor wir diesen überhaupt erreichen, geht bei uns eigentlich gar nichts mehr. Wir stehen da, ohne jegliche Motivation, ohne jegliche Kraft. Wir wissen, dass wir das eigentlich nicht schaffen können. Wir wollen mit einem Anhänger über Java radeln und sind schon nach den ersten Kilometern am Ende unserer Kräfte. Apathisch starren wir auf den nächsten Anstieg, den wir drei Mal hinaufschieben und zwei Mal herunterlaufen werden.
Jegliche Euphorie hat unseren Körper und Geist verlassen, trotzdem schaffen wir uns irgendwie wieder zu berappeln, auch wenn es diesmal länger dauert als sonst. Wir reißen uns zusammen, atmen durch und schieben. Was bleibt uns sonst auch übrig?
Eine letzte Pause vor dem Hammeranstieg bringt uns etwas Motivation und Lebensenergie zurück. An einem kleinen warung trinken wir einen kopi hitam und dazu zwei bis drei teh tawar paket es (ungesüßter Tee mit Eis). Wir sitzen auf einem kunstvollen Stuhl, dessen Sitzfläche und Gestell aus altem Fischernetz und Autoreifen besteht.
Ein Baum bietet uns Schatten und eine leichte Brise macht es erträglich. In unseren Köpfen ist nur noch Leere. Wir stieren vor uns hin, was lediglich durch das Lächeln der Frau unterbrochen wird, die uns den nächsten teh tawar serviert.
Vor uns liegt der Geopark Ciletuh, eine besondere, geologische Erscheinung im Südwesten Javas. Eine massive Gesteinsformation ragt steil aus dem Meer auf ca. 400 Meter empor. Das Besondere ist, dass die Wände hier ebenso schnell wieder abfallen wie sie aufragen und in einem großen Krater auf Meereshöhe enden. Die Formation wird auch als natürliches Amphitheater von Ciletuh bezeichnet oder mit einem Einschlagskrater eines Asteroiden verglichen.
Für uns bedeutet dies lediglich, dass wir diesen steilen Anstieg nicht einmal, sondern zweimal überwinden müssen…
Als wir am Fuße des Anstiegs stehen, trauen wir unseren Augen kaum. Die Straße ist unglaublich steil! Auf knapp 300 Metern müssen wir ca. 60 Höhenmeter überwinden oder anders gesagt, wir überqueren drei Fußballfelder und winken dann vom 20igsten Stock.
Wir schieben das erste Rad nach oben. Es weht kein Wind und die Sonne wird von der weißen Betonfläche reflektiert. Selbst zu zweit schaffen wir es nicht ohne eine Pause. Die Waden brennen wie Hölle. Selbst das Herunterlaufen ist unglaublich anstrengend und belastet die Knie. Als wir das zweite Mal absteigen, fragen wir ein Auto, ob es uns mit nach unten nimmt…
Das war der schlimmste Teil, doch der Rest der Strecke wird nur geringfügig leichter werden. Wir haben keine Energie mehr und auch keine Zeit, denn es ist bereits Nachmittag und vor uns liegen noch gute zehn Kilometer Bergetappe.
Zum Glück ist der indonesische Straßenverkehr gespickt mit schwarzen und weißen Kleintransportern mit offener Ladefläche, dem sogenannten mobil besar (Auto groß). Wir versuchen eines davon anzuhalten und fragen, ob sie uns den Berg mit nach oben nehmen können. Nach einigen Versuchen haben wir jemanden gefunden und im Handumdrehen sind unsere Räder auf der Ladefläche verstaut und mehr oder weniger sicher verankert. Wir rattern den Weg nach oben.
Die grüne Natur braust an uns vorbei und in uns breitet sich eine unglaubliche Erleichterung aus. Es sind nicht nur die steilen Anstiege, sondern auch ein Gewisses Auf und Ab, was einem jede Motivation rauben würde, säße man nicht gerade auf der Ladefläche, sondern auf dem Sattel. Als dann selbst der Transporter an manchen Stellen im kleinsten Gang nach oben hechelt, verstärkt sich dieses Gefühl umso mehr.
Wir sind oben und das begießen wir mit einer frischen Kokosnuss. Der Blick ins Tal, in den Krater und der Gedanke, dass wir das heute nie allein geschafft hätten, umringen die Situation. Dann schwingen wir uns auf die Räder und rollen nach unten. Es ist so steil, dass wir wieder unsere Unterarme vor Anspannung spüren. Diesmal können wir die Umgebung etwas mehr aufsaugen, zumindest bis zu dem Moment, als da schon wieder ein kleiner Anstieg vor uns auftaucht. Die Beine brennen und auch diesmal schaffen wir es nicht ohne zu schieben.
Am Abend erreichen wir die Unterkunft. Wir sind unglaublich erschöpft und gleichzeitig erleichtert, dass wir es wieder irgendwie geschafft haben. Dass wir es nicht aus eigener Kraft geschafft haben, ist uns dabei ziemlich egal. Wir genießen den Moment, bevor uns ein tiefer und erholsamer Schlaf einholt.
Den Tag beginnen wir im ersten Licht, gut erholt, mit einem Kaffee auf unserem Campingkocher. Unser „Coffee and Peace“ Ritual am Morgen begleitet uns ja schon die ganze Reise. In Indonesien sind wir damit in bester Gesellschaft, denn hier gilt stets: kopi dulu! (Kaffee zuerst!) Dass wir den Kocher direkt vor der Tür unserer Unterkunft loslodern lassen, interessiert hier niemanden. Ganz im Gegenteil, auch unsere Nachbar*innen sind längst wach und bereiten gerade schon ein Pop Mie (indonesische Instantsuppe in bunten Bechern, die es so gut wie überall in Indonesien gibt) zum Frühstück auf ihrem Kocher zu. Mit der Laustärkeempfindung reiht sich Indonesien außerdem in die restlichen asiatischen Länder ein, durch die wir fuhren. An lauten Geräuschen stören wir uns vor allem selbst oder eben die anderen Menschen, die aus ähnlichen Gefilden kommen wie wir.
Unsere Beine wiegen noch immer schwer, doch wir sind guten Mutes, dass wir heute den Krater wieder verlassen können. Im sogenannten Amphitheater von Ciletuh radeln wir durch die vielen Reisfelder. Es ist gerade Erntezeit und das ist hier vor allem noch Handarbeit. Die Reishalme werden mit der Sichel geschlagen und anschließend ausgeklopft. Die Reiskörner liegen im Anschluss auf Planen zum Trocknen aus und werden hin und wieder mit einem Holzrechen gewendet.
Reis ist das Grundnahrungsmittel Indonesiens. Für manche sogar das Hauptnahrungsmittel. Die Bedeutung spiegelt sich auch in der Sprache wider. Haben wir im Deutschen lediglich ein Wort für Reis, unterscheidet man in Indonesien je nach Zustand des weißen Korns.
Unsere Mägen machen sich auch langsam bemerkbar, doch in den kleinen Dörfern der flachen Reisebene herrscht noch die Ruhe des Morgens. Bevor wir aus dem Krater herausfahren, brauchen wir unbedingt noch eine Portion nasi (gekochter Reis)!
Nach langem Suchen finden wir auch endlich einen kleinen warung, der zumindest schon teilweise geöffnet hat. Die ältere Frau reicht uns eine türkisfarbenes Plastiksieb vollgefüllt mit nasi, der darin ausdampft. Wir sollen uns einfach selbst an der kleinen Auslage bedienen, sie muss zurück in die Küche und weitere Sachen zubereiten. Wir schöpfen uns gebratenes Tempe, Tofu, gedünstetes und frittiertes Gemüse auf unsere Teller und nehmen auf der kleinen baruga im Schneidersitz Platz, einem kleinen Holzunterstand, der mit Bambusmatten ausgelegt ist. Wir spüren, wie die Energie direkt in den Körper fließt!
Immer wieder bringt die Frau eine weiter Schüssel aus der Küche in die Vitrine. Dann setzt sie sich kurz zu uns und wir erweitern unseren bahasa indonesia Wortschatz. Als wir alles verputzt haben, erzählen wir ihr, was wir uns alles genommen haben und bezahlen unser Frühstück.
Dieses gegenseitige Vertrauen ist einfach etwas Wunderbares und es macht vieles einfacher. Wir haben schon lange nicht mehr das Gefühl gehabt, dass man uns über den Tisch ziehen will. Es wirkt viel mehr, als ob in weiten Teilen Südostasiens und Indonesiens ein allgemeines Grundvertrauen herrscht.
Mit etwas Essen im Magen, steigt auch direkt die Motivation, denn vor uns liegt nichts anderes, als der Aufstieg aus dem Amphitheater von Ciletuh. Auch diesmal ist bereits die Anfahrt zur Bergetappe eine kräftezehrende Tortour. Wir können es einfach nicht glauben, wie viele, kleine, knackige Anstiege hier auf uns warten. Normalerweise planen wir unsere Strecke nicht so genau, aber nach der gestrigen Etappe haben wir uns das Höhenprofil etwas genauer angeschaut und sind daher umso schockierter, denn eigentlich sollten hier lediglich ein paar seichte Steigungen auf uns warten. Als wir dann abermals eine dieser Passagen nach oben schnaufen, wollen wir es genauer wissen und schauen in die App. Und tatsächlich! Hier ist einfach nur eine gerade Linie hinterlegt! Kein Anstieg! Vielleicht, weil dieses Auf und Ab zwischen den Höhenlinien liegt, weil es zu kurz ist, um von der groben Navigation eingefangen zu werden.
Nun sollte uns dies doch eigentlich egal sein, denn der Weg ist doch das Ziel und selbst wenn nicht, dann muss man eben auch den Weg überwinden, um ans Ziel zu kommen, egal wie der Weg auch ist. Doch es kratzt gehörig an der Motivation, wenn man sich auf etwas einstellt, was sich in der Realität als viel schlimmer herausstellt. Wir schlucken es runter und fahren weiter. Was sollen wir sonst machen…
Die Straße wird immer schlechter doch das herzliche Lächeln der Menschen in den kleinen Dörfern schenkt uns Kraft. Wir nähern uns dem großen Anstieg, als die Straße einmal komplett in eine Holperpiste aus großen, runden Steinen übergeht. Am letzten Haus im Dorf sehen wir einen Mann, der uns andeutet, dass wir lieber umdrehen sollten. Vielleicht wollen wir es einfach nicht wahrhaben und fahren daher stur weiter.
Jetzt erhebt sich der Weg und mit jedem Prozent Steigung wird er noch schlechter. Dazu gibt es kaum Schatten und die Sonne brennt schon wieder extrem. Wir sind längst zum Schieben übergegangen, als ein Mann auf einem Motocross Motorrad angeknattert kommt. Er hält neben uns und redet eindringlich auf uns ein, dass wir doch lieber umdrehen sollen. Die Straße wird noch schlechter und er schafft es gerade so mit seinem Motorrad. Solche eindringlichen Worte können wir dann auch in unserer, sich vor der Wirklichkeit verstecken wollenden Wahrnehmung, nicht überhören.
Mürrisch, genervt und ohne jegliche Zuversicht radeln wir zurück und treten fast wütend jeden dieser kleinen, biestigen Anstiege ein zweites Mal nach oben. Diesmal können wir das Lächeln der Menschen nicht mehr erwidern, genervt scheuen wir den Blickkontakt und fahren ca. fünf Kilometer zurück, wohlwissend, dass es hier nicht nur um diese zehn extra Kilometer mit diesen vielen, kleinen Anstiegen geht, sondern auch darum, dass die andere Straße ein Umweg ist, dass wir mittlerweile die kühleren Morgenstunden fast aufgebraucht haben und dass dies alles einfach so viel Energie kostet.
Wir sind zurück an der Kreuzung, an der wir in die Sackgasse abgebogen sind. Unmotiviert und erneut gefüllt mit Leere sitzen wir im Schatten eines Supermarktes und trinken eine kalte Limonade. Längst kreisen die Ideen, was wir machen sollen. Doch am Ende kommt immer die gleiche Antwort – weiter radeln und hoffen, dass wir irgendwann ein mobil besar finden, dass uns mit nach oben nimmt.
Durch dieses ganze Schlamassel haben wir uns schließlich dazu entschieden, nicht nach Genteng zu radeln, sondern den Zipfel im Südosten Javas abzukürzen. Wir haben eine neue Devise für unsere Routenplanung – so wenige Höhenmeter wie möglich!
Genteng wäre eigentlich die nächste Möglichkeit gewesen, unsere Surfbretter, die wir hier die ganze Zeit rumkarren, ins Wasser zu lassen. Stattdessen suchen wir uns ein neues Ziel, was direkt auf dem Weg liegt. In ca. 30 km gibt es einen Wasserfall mit kleinen Unterkünften. Wir kontaktieren die Besitzer und haben ein Bett für heute Abend sicher. Das hebt die Stimmung ungemein, denn es verschwindet zumindest eine Ungewissheit aus dem ganzen Fragenkopf. Jetzt müssen wir eben nur diese 30 Kilometer überwinden. Zur Belohnung wollen wir uns einen Tag Pause am Wasserfall gönnen.
Die „große Straße“ verdient diese Bezeichnung eigentlich nicht. Riesige Schlaglöcher in einer ohnehin schon völlig zerfallen Oberfläche, Schotterpiste, runde Steine und eine Mosaik aus Asphaltresten wechseln sich ab. Das einzig gute an der Straße ist, dass es alle Teilnehmer zu einer gewissen Entschleunigung zwingt, welche bei uns vor allem durch den Anhänger hervorgerufen wird, da wir ihn seicht in jedes Loch und über jeden Stein führen wollen, um die sensiblen Surfbretter nicht zu beschädigen. Es gibt aber auch gute Abschnitte, auf denen wir einfach nur rollen und das Radeln genießen können.
Die Straße führt uns durch kleine, abgelegene Dörfer in denen uns die Menschen staunend hinterherstarren. Manchmal schauen uns die Menschen, ob groß oder klein, so fassungslos an, dass man ihnen gefühlt die Gedankengänge an ihrem Gesichtsausdruck ablesen kann. Für eine gute Sekunden verlieren sie jegliche Handlungsfähigkeit über ihre Mimik und Gestik. Die Augen weiten sich, der Mund geht auf und sie starren uns einfach nur an. Fassungslos, fasziniert, frenetisch. Es ist ein winziger Moment, in dem alles andere verschwindet, und sobald sie wieder ins Hier und Jetzt zurückfinden, verwandelt sich ihr Gesicht in eines der herzlichsten und ehrlichsten Lächeln, die uns auf unserer Reise geschenkt wurden.
Es sind auch für uns unbezahlbare Momente. Momente, in denen wir so viel Energie und Positivität aus der Situation ziehen. Momente, die all unsere Strapazen erträglich machen und uns immer wieder puschen, mit Endorphinen überschütten und uns motivieren, weiter zu radeln und mehr davon zu erleben. Es ist wie ein Rausch, der die Sinne betäubt und die Zeit endlos werden lässt! Wann kann man in der heutigen, aufgeklärten, globalisierten und digitalen Welt Menschen noch wirklich fassungslos machen?
Der Tag wird lang und langsam senkt sich die Sonne. Die kühlere Luft tut gut immer öfter fahren wir im Schatten. An einem kleinen Holzverschlag an der Straße wollen wir uns noch mit Gemüse eindecken. In kürzester Zeit sind wir umzingelt von einer kleinen Gruppe Kinder. Mit strahlenden Augen starren sie uns an und preisen freudig ihre bisherigen Englischkenntnisse, was sich jedoch meist auf „Hello Mr.“ beschränkt. Als wir sie dann auf ihrer Sprache nach ihren Namen fragen, folgt entweder ein hysterischer Aufschrei oder die Kinnlade klappt herunter. Doch schon bald löst sich ihre Anspannung. Auch die Erwachsenen sind nun zur Stelle, um uns willkommen zu heißen.
Der Mann aus dem Gemüsestand humpelt auf einem Bein aus dem kleinen Holzschuppen und bringt uns noch ein paar bessere Tomaten. Neugierig schauen die Kinder uns über die Schulter, was die bule denn hier einkaufen.
In der Dämmerung erreichen wir das kleine Dorf, in dem sich unsere Unterkunft befindet. Wir rollen eine holprige Schotterpiste nach unten. Dunst und Staub liegt in der Luft. Die Hausfassaden spiegeln alles wider, was es gerade gab, um eine Behausung zu bauen. Am Ende der Straße steht ein Holzwagen, eine Gruppe Kinder ist darum versammelt und dabei sich einen kleinen Snack von dem älteren Mann zu kaufen. Als sie uns sehen, fällt ihnen das Essen wieder aus dem Mund. Wir biegen noch einmal ab und dann sind wir endlich da.
Aus dem Tag Pause wird nichts, nachdem wir feststellen, dass unsere Matratze auf einem Ameisennest platziert ist, wollen wir nicht noch eine Nacht länger bleiben. Zumindest gönnen wir uns einmal Ausschlafen und rollen erst am Nachmittag, bei gesenkter Sonne weiter.
Was motiviert uns? Eine richtige oder eindeutige Antwort auf diese Fragen finden wir nicht. Vielleicht ist die Reise unser Alltag geworden und da stellt man sich ja auch nicht so oft die Frage, was motiviert mich eigentlich jeden Morgen aufzustehen. Es ist einfach unser Alltag, auf die Räder zu steigen und die nächste Etappe zu meistern. Haben wir eine Alternative?
Ja, wahrscheinlich hätten wir die, genau wie jede/r andere auch. Wir können aus unserem Alltag ausbrechen und mit einmal alles ganz anders machen, aber wir haben auch ein Ziel vor der Nase und dafür lohnt es sich, die Mühen auf sich zu nehmen.
Es sind auch die wunderschönen Momente, die wir mit den Menschen erleben, die uns unglaublich motivieren und zugleich an den Rand der Verzweiflung bringen, wenn diese Menschen in ihren Autos an uns vorbei rasen. Es ist die traumhafte Natur, mit all ihren Facetten, die in uns Glückgefühle hervorrufen, die uns aber auch unermüdlich strapazieren und an unsere Grenzen bringen kann, sei es das Klima oder das Terrain.
Es ist einfach alles und auch nichts, denn könnten wir ohne das Tief, das Hoch wirklich so genießen?
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Moin!
Heute ist der 2. Advent.
Der Weg ist das Ziel. Führt er euch zu Weihnachten nach Deutschland zu euren Familien? Noch 16 Tage bis Weihnachten. Wo seid ihr dann?
Adventliche Grüße von der Waterkant senden euch Renate und Karen aus Kiel 🌲🌲⛄⛄🐐🐐🤶🎅🤶🎅